Tagung Potsdam
Formen kollektiver Selbstbestimmung nach dem Ersten Weltkrieg
Die kriegführenden Mittelmächte Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien und Osmanisches Reich baten im September und Oktober vor exakt 100 Jahren um Frieden auf der Grundlage der vom amerikanischen Präsidenten Wilson im Januar 1918 verkündeten Prinzipien für die künftige Weltordnung. Dabei spielte die Idee der Selbstbestimmung der Völker eine wichtige Rolle.
Selbstbestimmung im Wilson’schen Sinne hat viel gemeinsam mit dem Konzept der Autonomie nach Kant: Sie hat in erster Linie einen negativen Inhalt. Selbstbestimmung heißt vor allem Freisein von Angst (vor Angriffen) und Bevormundung (durch undemokratische Instanzen). Mit der Beseitigung dieser Schranken werden die Voraussetzungen für die Errichtung des ewigen Friedens geschaffen, in dem die Menschheit ihr Bestes zeigen kann.
Der Erste Weltkrieg, der – wie Wilson oft behauptete – alle Kriege in Zukunft unmöglich machen sollte, endete mit Friedensverträgen, die viele Ansprüche nach nationaler Selbstbestimmung in der Form der Staatsbildung oder des Staatsanschlusses befriedigten, aber andere unberücksichtigt ließen bzw. lassen mussten.
Einigen Völkern und mehreren z.T. neuen nationalen Minderheiten blieb daher nichts anderes übrig, als nach alternativen Wegen zur Erlangung der Selbst-bestimmung zu suchen. Für diese Gruppen galt Selbstbestimmung zuerst in ihrem ursprünglichen Sinn: die Hintanhaltung von – für die Gruppe als spezifi-sche Größe – negativen Entwicklungen. Also Selbstschutz: Es ging darum, Strukturen zu schaffen, die imstande waren, Diskriminierungen mit dem Ziel der Verdrängung oder Assimilation durch national motivierte Mehrheitsgesellschaften zuvorzukommen.
Ziel und Zweck der Tagung ist es, zu untersuchen, wie verschiedene, in die Minderheitenlage geratene bzw. darin belassene nationale Gruppen auf diese Herausforderung reagiert haben. Es sollen Fragen aufgegriffen werden wie:
- Welche sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen oder gar politischen Organi-sationen haben Minderheiten ausgebildet, um das Selbstbestimmungsrecht in einer anderen Form als jener der Staatsgründung/Grenzverschiebung wahrnehmen zu können?
- Worin bestand der tatsächliche Erfolg dieser Einrichtungen?
- Wie haben diese speziellen Organisationsformen das Leben der Gruppen-mitglieder beeinflusst?
- Haben sich infolgedessen typische Denk- und Verhaltensmuster bei Minder-heitenangehörigen gebildet?
- Wie durchlässig waren die Grenzen ihrer Organisationen?
- Wie haben diese die Beziehung der Minderheit zu anderen nationalen Gruppen im Wohnsitzstaat beeinflusst?
Die Untersuchung zum Umgang ausgewählter Minderheiten mit dieser Art der Selbstbestimmung nach dem Ersten Weltkrieg, die Staatsgründung bzw. Grenz-verschiebungen ausschloss, sollen Anregungen liefern in Hinblick auf die Evaluierung der heute angewandten Selbstbestimmungsstrategien von nationa-len Minderheiten in verschiedenen europäischen Ländern, dies unter Berück-sichtigung der sie beeinflussenden internationalen Gegebenheiten.
Konferenzsprachen sind Deutsch und Englisch.
Für die Referate stehen 30 Minuten mit anschließenden 15 Minuten Diskussion zur Verfügung.